Inhalt |
Die „unerhörte Begebenheit“ – so übersetzte Goethe einmal den Titel seines kurzen Textes „Novelle“ – soll als Erzählform zweierlei bewirken: zum einen bringt sie die Zuhörer:innen und Leser:innen „aus ihrer Fassung“, zum andern schafft sie eine Voraussetzung für eine neue „Verfassung“, z.B. eine Neuordnung in der Gesellschaft, des Wissens oder der Sichtweisen auf die Dinge. Entsprechend findet novellistisches Erzählen zeitlich oft selber auf Schwellen oder räumlich in Heterotopien statt: in Boccaccios Erzählzyklus „Decameron“ während der Pest im Exil, in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ auf der Flucht vor dem Krieg, in einer Zeit wankender Herrschaftsverhältnisse, in Christoph Martin Wielands Erzählsammlung „Hexameron von Rosenhain“ zur Zerstreuung einer Gesellschaft „gebildeter Personen beiderlei Geschlechts“ auf einem abgelegenen Schloss. – Dass Wielands Sammlung wiederum eine „Novelle ohne Titel“ enthält, in der es um nichts anderes als um Genderfragen geht, gibt nicht zuletzt einen Hinweis darauf, dass die Novelle, die jüngste der klassischen literarischen Gattungen, oft auch selbst mit ihrer eigenen, stets unsicheren Bestimmung als Gattung ringt.
Im Seminar lesen wir Novellen aus mehreren Jahrhunderten, machen uns in der Praxis mit Grundzügen literaturwissenschaftlicher Lektüren vertraut, gehen den novellistischen Auseinandersetzungen mit Gattungsfragen nach und erproben den Umgang mit literarischen Texten in Hinblick auf kultur- und wissensgeschichtliche Fragestellungen. |