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Forschungsseminar: Klassen zwischen Individualisierung und Singularisierung – die empirische Realität gesellschaftlicher Grossgruppen in der Schweiz


Dozent/in Guy Schwegler, MA
Veranstaltungsart Hauptseminar
Code HS211373
Semester Herbstsemester 2021
Durchführender Fachbereich Soziologie
Studienstufe Bachelor
Termin/e wöchentlich (Di), ab 21.09.2021, 12:15 - 14:00 Uhr, 4.B02
wöchentlich (Di), ab 07.12.2021, 12:15 - 14:00 Uhr, Online
Umfang 2 Semesterwochenstunden
Inhalt Die Frage nach der empirischen Realität von gesellschaftlichen Grossgruppen beschäftigt die Soziologie seit ihren Anfängen. Ein Gründungsmoment des Fachs war unter anderem die Beschreibung der Klassenverhältnisse, die aus der Industrialisierung von Nationalstaaten im 18. und 19.Jahrhundert folgten. Bis in die 1980er Jahre zielten soziologische Analysen dann vor allem auf die vertikale Unterschiede dieser Grossgruppen ab, bevor die Klassenmodelle gleich zweifach neuorientiert wurden: Auf der einen Seite führte Pierre Bourdieu eine horizontale sowie eine symbolische Dimension von Klassen ein, die bis heute die Analyse von Grossgruppen prägen (1982 [2016]; Bennet et al. 2009). Auf der anderen Seite stellte Ulrich Beck mit seinem Begriff der «Individualisierung» die Erklärungsleistung von Klassen in einem theoretischen Sinne in Frage (1983). Insbesondere für die deutsche Soziologie war Becks Individualisierungsthese lange Zeit zentral und leite diverse Neuorientierungen in der Analyse von gesellschaftlichen Gruppen an (Beck & Beck-Gernsheim 1994; Bremer und Lange-Vester 2014).
In den letzten Jahren erfolgte wieder eine stärkere Neuorientierung am Begriff der Klasse, um aktuelle soziale Veränderungen zu fassen. Diese Neuorientierung zeigt sich etwa im anglo-amerikanischen oder eben im deutschsprachigen Kontext (Hochschild 2017, Nachtwey 2016). Auch Begriffe wie die «kreative Klasse» (Florida 2006) oder die «akademische Mittelklasse» (Reckwitz 2017) sorgten für ein Revival der Analyse von gesellschaftlichen Grossgruppen. Letztere Klasse und der von ihr getragene, gesamtgesellschaftliche Prozesse der «Singularisierung» war dann auch eine soziologische Beschreibung, die medial breit diskutiert wurden. Das Interesse an sozialen Veränderungen im Zusammenhang zu Grossgruppen kann allerdings noch nicht gleichgesetzt werden mit der adäquaten Erfassung dieser Gruppen. Denn neuere gesellschaftlichen Entwicklungen stellen insbesondere die Konstruktion von Klassen in einem methodologischen Sinne in Frage (Boltanski & Esquerre 2018).
In diesem Forschungsseminar möchten wir uns dem Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Singularisierung widmen: zwischen der Auflösung von Klassen als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen auf der einen und Klassen als Trägergruppen bei sozialen Prozessen auf der anderen Seite. Dabei sollen nicht nur die neueren theoretischen Konzeptionen um Grossgruppen diskutiert und vergliechen werden. Wir wollen uns auch deren empirischen Realität nähern, nämlich im Rahmen der Daten des Schweizerischen Haushaltspanels (Tillmann et al. 2016).
Voraussetzungen (1) Der erfolgreiche Besuch der Veranstaltungen «Methoden der emp. Sozialforschung» I und II wird vorausgesetzt.
(2) Auch sollen die Teilnehmer*innen parallel die Vorlesung Grundlagen der multivariaten Statistik besuchen (oder sie sollen diese bereits erfolgreich besucht haben) bzw. sonstige Kenntnisse in Statistik vorweisen können.
(3) Darüber hinaus müssen Grundkenntnisse der Statistiksoftware R vorhanden sein (die gleichzeitige Teilnahme an der Veranstaltung «Sozialwissenschaftliche Datenanalyse mit R» bietet eine Möglichkeit, diese Voraussetzung des Seminars zu erfüllen).
Sprache Deutsch
Abschlussform / Credits Aktive Teilnahme (Protokolle) / 4 Credits
Hörer-/innen Nein
Kontakt guy.schwegler@unilu.ch
Material Die Literatur für das Seminar wird auf OLAT bereitgestellt. Die Daten des Schweizer Haushalt-Panel werden von der Seminarleitung zur Verfügung gestellt (diese sind aber auch öffentlich zugänglich via FORS). Die Statistiksoftware R/RStudio, mit der die Daten analysiert werden sollen, ist frei als Open Source Software erhältlich.
Literatur Beck, Ulrich & Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.) (1994). Riskante Freiheiten: Individualisierung in modernen Gesellschaften (1. Auflag, Erstausgabe). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bennett, Tony; Savage, Mike; Silva, Elizabeth; Warde, Alan; Gayo-Cal, Modesto & Wright, David (Hrsg.) (2009). Culture, class, distinction. Abingdon, Oxon?; New York, NY: Routledge.

Boltanski, Luc & Esquerre, Arnaud (2018). Bereicherung: eine Kritik der Ware (1. Auflage). Berlin: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (2016). Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (25. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bremer, Helmut & Lange-Vester, Andrea (Hrsg.) (2014). Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur: die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Strategien der sozialen Gruppen (2., aktualisierte Auflage). Wiesbaden: Springer VS.

Florida, Richard L. (2006). The rise of the creative class: and how it’s transforming work, leisure, community and everyday life (Nachdruck). New York, NY: Basic Books.

Hochschild, Arlie Russell (2017). Fremd in ihrem Land: eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt New York: Campus Verlag.

Nachtwey, Oliver (2016). Die Abstiegsgesellschaft: über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (1. Auflage, Originalausgabe). Berlin: Suhrkamp.

Reckwitz, Andreas (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten: zum Strukturwandel der Moderne (1. Auflage). Berlin: Suhrkamp.

Tillmann, Robin; Voorpostel, Marieke; Antal, Erika; Kuhn, Ursina; Lebert, Florence; Ryser, Valérie-Anne; Lipps, Oliver; Wernli, Boris (2016). The Swiss Household Panel Study: Observing social change since 1999. Longitudinal and Life Course Studies, 7(1).